Mutter mit Tochter auf Arm bei Sonnenuntergang
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Als das hier alles losgegangen ist, stand es sehr schlecht um Klara. Erst überhaupt die Nachricht im Krankenhaus, dass sich hinter ihrer geschwollenen linken Brust ein Tumor verbarg, war ein Schock, der mich wahrlich auf den Boden sinken ließ, auf meine Knie, vor Klara, die durch die Tür eintrat, nichts verstand, weil sie gerade nichtsahnend von der Toilette zurückkam, nachdem mir fünf Sekunden zuvor die Diagnose mitgeteilt wurde. Mein Mann, der sie begleitet hatte, konnte nur ahnen, was mir just zuvor mitgeteilt wurde und weshalb ich so zu reagieren vermochte. Bis dahin gingen wir von irgendeiner Entzündung aus, Milz oder irgendwelche Sehnen. Immerhin hatten wir schon ihren Kinderarzt und einen Orthopäden aufgesucht und beide meinten, es wäre nichts Schlimmes, eher wachstumsbedingte Schmerzen oder eine kleine Sportverletzung.
Ein Weg durch die Hölle
Es war Knochenkrebs, das ließ sich schnell sagen. Welche Art, ob gut- oder bösartig, das sollten wir noch erfahren. Eine höllische und schlaflose Nacht stand mir bevor; mir graute es vor ihr. Klara und ich blieben im Krankenhaus, mein Mann musste alleine nach Hause. Ich wusste nicht, um wen ich mich mehr sorgte. Ich hatte das Gefühl, Klara alles erzählen zu müssen, vom Leben, vom Tod, alles, was ich ihr bisher noch nicht verraten hatte, an Geheimnissen, über mich und was ich so über das Leben wusste oder nicht wusste und einfach Dinge, für die ich dachte, noch genug Zeit mit ihr zu haben. Und jetzt wusste ich nicht, ob ich das alles in eine Nacht packen sollte oder ob es keinen Sinn machte, weil sie das alles nicht mehr erleben würde. Dieser Gedanke war der quälendste. Und der Gedanke an ihre kleine Schwester, die sie verehrte. Wie sollten wir ihr alles erklären? Alles drehte sich. Klara schlief dann zum Glück kindlich und erschöpft ein und das hielt mich davon ab, ihr von dem Karussell in meinem Kopf zu erzählen. Ihre natürliche Sorglosigkeit ließ sie einschlafen und sorgte dafür, dass der Vulkan in meinem Herzen nicht ausbrach und sich die Lava nicht unkontrolliert über uns beide ergießen konnte.
Am nächsten Morgen verlegte man uns in eine andere Klinik. Dort folgte dann eine schlecht verlaufende Biopsie, die abgebrochen werden musste aufgrund starker Blutungen des Tumors, und eine sogenannte notfallmäßige Embolisation, bei der eine Verletzung der Wirbelsäule ausgelöst wurde. Es folgte eine tagelange Lähmung der Beine und keine Gewissheit, ob das je wieder gut werden würde – was zum Glück heute nur lähmende Erinnerung ist.
Dann, nach erneuter, erfolgreicher Biopsie, die niederschmetternde Nachricht, dass der Tumor ein bösartiger ist und mit Chemos behandelt werden muss. Zu dem Zeitpunkt waren wir schon ein paar Tage auf der Station und hatten einen Einblick darüber bekommen, was uns erwartete. Um alles zu begreifen, fehlte uns schlicht die Zeit, alles kam Schlag auf Schlag. Ich hatte mich schon mit einigen Eltern unterhalten. Die meisten Kinder hier hatten gute Heilungsaussichten, aber einige waren hier zum zweiten Mal; nach erfolgreicher Heilung kam der Krebs wieder, manchmal derselbe, manchmal ein anderer. Andere waren hier sogar zum dritten Mal, mit komplett zusammenhanglosen Krebsarten, Darm und dann zweimal Gehirntumore, bei einem Kind innerhalb weniger Jahre. Einige Eltern erzählten, ihre Kinder würden keine langen Überlebenschancen mehr haben und seien hier noch zu lebensverlängernden Maßnahmen, weil keine Therapie angeschlagen hätte, oder warteten seit Wochen auf einen Stammzellenspender.
Dann, die nächste Nachricht, die alle Hitzewallungen, jedes Schwindelgefühl und die Machtlosigkeit, die ich bisher empfunden hatte, toppten. Der Krebs hatte gestreut, bis in die Arme und Beine, die Beckenknochen waren am stärksten betroffen, aber auch Schulter, Wirbelsäule und Oberschenkel. Ihre statistischen Überlebenschancen sanken von 80 auf 5-10 Prozent. Ich redete mit keinem über diese Zahlen, sie kamen mir so wissenschaftlich und lieblos vor, als spräche man über ein Auto oder einen Heizofen. Nichts, worüber eine Mutter sprechen sollte, wenn sie über die Lebenserwartungen ihres Kindes sprach. Ich vermied es auch, darüber nachzudenken, aus demselben, anständigen Grund und auch, weil mir jedes Mal speiübel wurde, wenn ich an die Zahl dachte.
Alle Fragen von Bekannten und Verwandten zum Zustand beantwortete ich gerne und freute mich, dass so viele für Klara beteten und uns unterstützten. Aber eine Frage empfand ich immer als ein wenig taktlos: die Frage um ihre Chancen. Ich nahm mir fest vor, nie jemand Krankem oder dessen Angehörigen diese Frage zu stellen. Also beantwortete ich diese immer hastig damit, dass sich das nicht genau sagen ließe und ja auch eigentlich egal war, was irgendwelche Statistiken sagten. Das meinte ich sogar so. Mir war klar, dass es so oder so enden konnte. Du konntest unter die 90 Prozent fallen oder unter die 10. Und dennoch, trotz des kühlen Kopfes, den ich mir versuchte zu bewahren, brannte es in mir. Diese innere Qual, die ich zuvor noch nie erlebt habe, werde ich wohl nie vergessen. Auch zuvor im Leben spürte ich schon mal Verzweiflung in mir hochkommen oder Angst in diversen Situationen. Aber dieses innere Höllenfeuer hatte ich noch nicht erlebt; jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, man brennt nicht von außen, sondern von innen.
Mit Gottes Hilfe
Ich hatte das Gefühl, schnell eine Notlösung für meine Seele zu brauchen. In der Not bat ich Gott um Hilfe und bekam diese auch. In der ganzen Zeit, in der vermutlich viele das Gefühl bekommen hätten, Gott verließe sie, spürte ich seine Anwesenheit immer deutlicher. Mit jedem weiteren Schlag zu Boden bat ich ihn verzweifelt um seine Hand und er reichte sie mir und zog mich wieder hoch. Es war seltsam, nach jeder schlechten Nachricht und meiner anschließenden Einsicht, Reue und Bekehrung in irgendeinem Bereich meines Lebens, folgte eine gute Nachricht. Es war wie ein Abkommen. Ich fragte ihn, was los sei und erhielt die Antwort wie eine Eingebung. Entweder ich verzieh oder entschuldigte mich bei jemandem oder tat sonst etwas Kalmierendes und es folgte abrupt eine gute Nachricht. Nach ein paar Schlägen und Aufstehhilfen wurde es Gewissheit: Er fing mich auf, es war kein Fass ohne Boden, er war da. Jede Frage, die sich mir stellte, beantwortete er mir.
Warum?
Auf die Frage „Warum Klara?“ bekam ich meine Antwort, auf die Frage „Warum ich?“ bekam ich sie und auf die Frage „Warum Ika?“ bekam ich sie ebenfalls.
Klara enthüllte sich mir gleich als auserwählt. Sie war immer schon ein besonders friedliebender und harmonieliebender Mensch gewesen und es schmerzte, dass es ausgerechnet sie traf und der Schmerz sollte uns alle treffen. Mir hatte sie schon vorher Anstöße gegeben, mich zu bekehren. Eins von vielen Beispielen schrieb ich zufällig 2019 einmal auf, da ich früher schon Dinge notiert hatte, die ich nicht vergessen und meinen Kindern irgendwann als Hinterlassenschaft dalassen wollte. Am 04.11.2019 schrieb ich auf, was Klara an dem Abend zuvor zu mir gesagt hatte, damals war sie 5 Jahre alt: Ich schimpfe im Bett mit Klara, weil sie zu wild war und mir wehgetan hat. Sie hört auf zu toben, legt sich hin und möchte, wie immer, meine Hand zum Einschlafen halten, weil sie sich dann sicherer fühlt und ich sage nein. Das möchte ich jetzt nicht, weil ich immer noch eingeschnappt bin. Dabei weiß ich, dass sie die Hand zum Einschlafen braucht, trotzdem bleibe ich stur. Sie fängt ehrlich an zu weinen und ich sehe ihre traurigen Augen. Erst dann nehme ich ihre Hand und entschuldige mich. Ich sage ihr, dass es mir leidtut und dass ich Angst habe, dass ich schon viel zwischen uns zerstört habe. Sie sagt: „Nein, du hast noch viele Chancen“. Ich bin gerührt und bedanke mich und singe ihr noch ein Lied zum Einschlafen. Klara dreht sich um und sagt ganz höflich: „Entschuldige, dass ich dich jetzt unterbreche, aber ich wollte nur noch sagen, du bekommst noch so viele Chancen, bis ich sterbe.“
Damals war ich sehr gerührt, nahm mir fest vor, mich zu bessern und nicht so schnell und unnötig eingeschnappt zu sein, Dinge lockerer zu sehen und schneller zu verzeihen. Es gab noch hunderte solcher Situationen. Aber ich brauchte wohl lautere Wecker oder gleich einen Glockenschlag auf den Kopf, um mich zu bekehren.
Die Antwort auf das „Warum ich?“ war mir nicht nur deshalb klar, sondern auch, weil ich oft an Gott zweifelte. Oft forderte ich ihn heraus, indem ich Dinge dachte wie, er solle mir ein Zeichen schicken, wenn es ihn gäbe, eine Sternschnuppe, wenn ich in den Himmel schaute oder einen Blitz aus heiterem Himmel; als ich die Schläge und seine helfende Hand spürte, waren seine Zeichen mehr als deutlich. Es fühlte sich an wie ein Peitschen, begleitet von den Worten „Und, glaubst du jetzt an mich? Spürst du es jetzt? Glaubst du jetzt an mich? Reicht dir das an Zeichen? Hier hast du deine Blitze und die Donner noch dazu!“.
Ika stimmte meinen Erklärungen zu. Es klang plausibel für ihn. Ich erzählte ihm von meinem Dialog mit Gott und er nickte es so selbstverständlich ab wie jemand, der beide Parteien gut kennt und sich genau vorstellen kann, wie wer was gesagt hat. Die beiden hatten ihre Begegnungen wohl schon öfter gehabt.
Auf die Frage „Warum Ika?“ bekam ich die Antwort von Ika selbst. Für ihn war sie selbstverständlich, er sagte: „Gott wird hier ein Wunder vollbringen, er lässt mich nicht im Stich, das hat er noch nie gemacht. Immer, wenn ich ihn um Hilfe gebeten habe, hat er sie mir gegeben. Ich wurde oft verspottet wegen meines starken Glaubens, jetzt wird er es deutlich machen, hiernach wird niemand mehr sagen können, dass ich ihm vergebens vertraue.“ Es klang fast wie eine Prophezeiung und es gab mir Sicherheit, dass er das so überzeugt sagte. Ich wagte es nicht, ihm zu widersprechen, erstens war das, was er sagte, zu schön und zweitens hatte ich Gott zu dem Zeitpunkt auch schon deutlich erkannt, in seiner Härte und Barmherzigkeit, und hütete mich davor, ihn nicht mehr zu preisen und zu ehren, geschweige denn, ihn zu verleugnen. Vielmehr dankte ich ihm für diesen Mann, den er mir an die Seite gegeben hatte und der mich jetzt verstand, wo mich sicher nur die wenigsten verstanden hätten und durch den ich Gott vermutlich jahrelang näher war, als ich ahnte. Meine Ehrfurcht wuchs ins Unermessliche, fast so groß wie meine Dankbarkeit und Liebe.
In Gottes Hand
Das Entscheidende, was mich aufrecht hielt und mir half, nicht zusammenzubrechen, war seine wesentliche Botschaft: Ich sollte mich nicht mit ihm um etwas reißen, was sowieso ihm gehörte! Ich hatte mich vormals mit vielen um ihretwillen angelegt, mit Lehrern, Erziehern, Familienangehörigen oder fremden Eltern. Aber in diesem Fall, begriff ich schnell, hatte ich weniger Anrecht über ihr Wohlergehen und ihre Zukunft zu entscheiden. Es gab schönere Orte als diese Erde und er hielt sie für seine Besten bereit. Ich brauchte mich nicht wundern, wenn er seine Engel zu sich holte, sie gehörten zu ihm. Ihr Platz war an seiner Seite und ich sollte mich freuen für mein Kind, wenn es dorthin zurückkehrte, wo wir alle gerne sein würden, wenn wir nur wüssten und glaubten. Erst dienten diese Gedanken als Trost, aber bald begann ich neugierig auf den Tod und was danach kommen könnte zu schauen und es erleichterte es uns allen, über alle möglichen Ausgänge zu sprechen und uns auf alles zu freuen, was kommen könnte – die Heilung, den Tod. Und dennoch, auch wenn ich Klara nur das Beste gönnte, bat ich ihn in meinem irdischen, mütterlichen Egoismus, sie bei uns zu lassen. Ich versprach, alles verstehen zu wollen und mich zu bessern. (Ich weiß bis heute nicht, ob er mir noch eine Chance gab oder ob das alles von Anfang an sein Plan war). Jetzt, wo mein Glaube entflammt war, überkam mich das Gefühl, wenn ich mich änderte, könnte ich noch etwas an dem Ausgang ändern, wenn ich büßte, bereute, liebte und vergab, konnte das Ende besser kommen, als ich erst gedacht hatte. Ob durch Heilung Klaras oder durch mein Seelenheil, war mir nicht klar. Ich wusste nur, dass es, egal wie, helfen würde, umzukehren und mich zu bekehren. Er hatte alles in seiner Hand, mit einem Fingerschnipps konnte er uns sowieso alles nehmen, was er uns zuvor gegeben hatte. Es hatte keinen Sinn, die besten Ärzte aufzusuchen oder in Ungeduld zu verfallen, wenn etwas nicht schnell genug ging. Wir wurden ruhiger, gelassener, friedlicher, liebender, vergebender und mitfühlender als je zuvor.
Schmerzende Zeichen
Auch, wenn wir uns wirklich gut hielten und oft bewundert wurden für unsere Stärke und Klaras Positivität, zeigten die ersten Chemos und die Umstände irgendwann ihre Wirkung. Die ersten vier Wochen waren vergangen und wir waren nicht einmal zuhause gewesen. Die Nebenwirkungen setzten ein und die Schmerzen begannen. Offene Schleimhäute, Schmerzen beim Schlucken und den Toilettengängen, Übelkeit, tagelanges Nichtessen, Morphin zur Schmerzlinderung und natürlich auch Haarausfall. Die Nerven waren strapaziert und wir wurden herausgefordert. Inzwischen fielen Klara büschelweise die Haare aus und an einem dafür gut erscheinenden Tag beschlossen wir, sie ihr beim Friseur in der Klinik rasieren zu lassen. Wir waren dort in den vergangenen Wochen ein paarmal zum Haarewaschen gewesen, da Klara noch immer nicht gut auf den Beinen war und die ganzen Zugänge im Körper für das Haarewaschen eine wirkliche Herausforderung darstellten. Also fuhren wir auch diesmal mit dem Rollstuhl eine Etage höher und begaben uns in den kleinen Salon von ca. 25 Quadratmetern. Die Inhaberin war alleine und so hatten wir Zeit, ihr unser heutiges Vorhaben zu erklären; wir hatten unsere eigene Rasiermaschine mit, mein Mann schwor auf diese. Sie bot uns den Stuhl rechts an, den linken hielt sie frei für einen Stammkunden, der gleich käme. Passte! Wir sollten schon mal auskämmen und könnten auch selbst rasieren, wenn wir das wollten. Sie wusste schon, dass wir sowieso bezahlten. Das Haarewaschen hatten wir auch immer selbst übernommen und dann Geld dort gelassen. Da wir noch immer unter Corona-Bedingungen lebten, blieb der mittlere Stuhl immer unbesetzt. Kaum hatten wir mit dem Auskämmen der Haare begonnen, flossen bei uns allen die Tränen. Die Haare lösten sich von alleine, was der Kopfhaut zumindest keine Schmerzen bereitete, dafür aber der Seele umso mehr.
Aufgewühlt durch unsere Emotionen und wohl aufgrund verweinter Augen bemerkten wir kaum das Ankommen des erwarteten Kunden. Doch gleich bei Eintreten begann er, sich laut mit der Frisörin zu unterhalten, wobei nicht lange im Verborgenen blieb, dass wir es hier mit einem „hohen Tier“ zu tun hatten. Er ließ sich von unserem Leid nicht stören und begann sofort, wie es sich für einen ordentlichen Friseurbesuch gehörte, sich über Gott und die Welt zu unterhalten. Wie genau er mit dem suspekten Thema begann, vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren, da uns seine Ansichten über die Welt erst anfingen aufzufallen, als er – nach meinem Empfinden – anfing, unverfroren zu werden. Vielleicht brachte unsere Anwesenheit selbst ihn auf die Idee, darüber zu referieren. Jedenfalls sprach er darüber, dass nach seiner Ansicht die Welt überbevölkert sei und er nicht verstünde, wie man heutzutage noch Kinder in diese setzen könnte. Seine Taktlosigkeit schien ihm nicht aufzufallen und deshalb senkte er seinen Ton keinesfalls, als mein Mann und ich in seine Richtung schauten.
Erst versuchte die Frisörin ihm scheinbar ein wenig zu widersprechen und meinte, wenn vorherige Generationen auch so gedacht hätten, gäbe es uns jetzt ja auch nicht. Er ließ sich davon nicht entmutigen und entgegnete, dass das ja auch schon ein Fehler wäre, man hätte schon längst mit dem Fortpflanzen aufhören sollen, immerhin wären wir Menschen ja ausgestattet mit Verstand und müssten doch längst erkennen, wie schädlich der Mensch für die Erde sei. Mein Mann, der sich nicht so schnell aus der Fassung bringen ließ, scherzte leise in meine Richtung, wie schade es wäre, dass seine Mutter nicht auch so gedacht hätte. Bei mir hielt noch Sprachlosigkeit die Stellung, denn ich war erstens mit dem Gedanken zugange, dass jemand mit solchen lebens- und menschenfeindlichen Ansichten beruflich in nicht unerheblicher Position stand und zweitens damit, wie viel Klara von dem, was er sagte, verstand und ob sie womöglich ihre eigene, frischgebackene Existenz in Frage stellen würde. Immerhin war sie acht und musste eigentlich deutlich verstehen, was er da von sich gab. Wobei sie mir später verriet, dass sie nicht wusste, was Fortpflanzung sei und beim Rest gar nicht genau hingehört hatte. Das war wohl das Klügste, was man hatte tun können.
Die Frisörin verfiel des Herren Ansichten scheinbar schneller als wir und pflichtete bei, sie hätte auch Kinder und Enkelkinder und würde auch immer stärker merken, dass ihre Nerven nicht mehr so strapazierfähig seien wie früher, was diese beträfe. Der Herr, der immer schon weise und vorausschauend gewesen zu sein schien, entgegnete, er hätte noch nie etwas mit Kindern anfangen können. Danach folgten ein paar kurze Sekunden der Stille und gerade als wir dachten, das Thema sei ausgeschöpft und wir könnten aufatmen, fügte er noch zusammenfassend und seufzend hinzu: „Aber naja, es gibt leider immer noch Dumme, die meinen, weiter Kinder in die Welt setzen zu müssen.“
Leider konnte ich in dem Moment nicht anders, als zu reagieren. Erst konnte ich mich noch gut zusammenreißen und fragte lediglich, ob es denn jetzt gut sei? Scheinbar überrascht, schauten die Herrschaften jetzt mit fragenden Gesichtern zu uns. Der überheblich wirkende Herr schaute, als wären wir ihm jetzt erst überhaupt aufgefallen und die Frisörin fand an ihrer Plauderei überhaupt nichts Schlimmes. Statt einer Entschuldigung oder irgendetwas, was die Situation sonst besänftigt hätte, folgte von ihm ein „Ich habe doch nicht mit Ihnen gesprochen.“ und von der Frisörin noch ein in Schutz nehmendes „Mein Kunde wird ja wohl noch reden dürfen, über was er will.“. Ich entgegnete, dass dies aber ja irgendwie doch eine Provokation in unsere Richtung sei und dass wir uns natürlich angesprochen fühlten als sonst einzige menschliche Wesen im Raum, die jüngst noch so dumm waren, sich fortzupflanzen.
Mein Mann, der nun auch mal aus seiner Haut fuhr, schlug dem Herrn vor, das Ganze doch nochmal draußen zu wiederholen, woraufhin die Frisörin vortrat, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass in ihrem Laden jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung hätte und hier niemandem gedroht werden dürfte. Ok, wahrscheinlich hatte sie Recht; Äußerungen gegen die ethnische Herkunft, sexuelle Identität oder Religion wären unter das Antidiskriminierungsgesetz gefallen, aber bei Kinderhass griff die Gleichbehandlung bestimmt nicht mehr, oder? Ich war mir nicht sicher. Bei so viel Uneinsichtigkeit lösten sich meine Manieren in Luft auf. In meiner Wut beschimpfte ich die Frisörin als noch größeres Miststück als ihren Kunden, weil sie ihm die Möglichkeit gab, sowas von sich zu geben. Das reichte ihr jetzt. Sie drohte uns an, den Sicherheitsdienst zu rufen, wenn wir nicht sofort gingen.
Dann fiel Klara mir wieder auf, die plötzlich auf Toilette musste, was seit dem Wirbelinfarkt in letzter Zeit immer schnell gehen musste und was diese heikle Situation hier scheinbar noch beschleunigt hatte. Sie weinte und beeilte sich nach draußen, was nur träge ging, da sie noch immer nicht gut zu Fuß unterwegs war. Mit ihren zerrupften Haaren und ihrem verängstigten Gesicht löste sie in mir etwas aus, was kombiniert mit dem vorherigen Zwischenfall und unseren blanken Nerven nicht mehr aufzuhalten war. In mir stieg etwas empor, was alle meine guten Vorsätze überwältigte. Ich hatte noch die Verpackung des Rasiergerätes in der Hand, die noch Akku und Aufsätze enthielt. Die Hand zuckte wie von selbst, all die Wut, Traurigkeit und aufgestaute Energie entluden sich in dieser einen Bewegung – in dem Wurf meines Lebens.
Alle misslungenen Wurfversuche bei den Bundesjugendspielen, meine Verfehlungen bei familiären Kissenschlachten, wenn ich meinem Mann mal eben die Fernbedienung zuwerfen sollte oder den Wäschekorb aus 1,5 Metern treffen sollte, waren wohl eine Übung und dienten einzig und allein dieser Gelegenheit, hier zu treffen. Alle, die an mir zweifelten und es nicht für möglich hielten, dass ich nochmal treffen würde in meinem Leben, wurden hier eines Besseren belehrt.
Ich traf, und wie. Mein Mann schob mich gleich erschrocken nach draußen, die Frisörin griff in Windeseile zum Telefon, um den Sicherheitsdienst jetzt wirklich zu rufen, der Kunde blieb wie angewurzelt sitzen und aus Klaras Schluchzen wurde ein lautes Heulen. Ich selbst erschrak wohl am meisten. Die geistesgegenwärtigen Bemühungen meines Mannes, die Beweise zu beseitigen und den herausgeflogenen Akku und die Aufsätze aufzusammeln, waren vergebens, der Kunde blutete am Kopf, seine Stirn war geplatzt. Mein Mann schubste mich raus, ich musste sowieso mit Klara zur Toilette gehen, und holte schnell unsere Dokumente, damit man uns auf der Station nicht suchen würde. Er schien in solchen Situationen irgendwie vernünftiger zu funktionieren als ich.
Naja, lange Rede, kurzer Sinn, der Sicherheitsdienst kam, hörte sich alles an und befand uns für schuldig; immerhin dürfte der Herr ja tatsächlich reden, was er wollte, ohne Schläge dafür zu bekommen. Auch privat schien der Sicherheitsmann dem verletzten Kunden beizupflichten, denn er war auch der Meinung, wenn er früher gewusst hätte, dass alles teurer werden würde, hätte er keine Kinder in die Welt gesetzt. Trotzdem bat er darum, dies hier auf sich beruhen zu lassen, aufgrund unserer Situation. Der Stammkunde, dem außerdem auch noch durch den Kopf zu gehen schien, dass er aufgrund seiner Aussagen vielleicht selbst in berufliche Bredouille geraten könnte, begnadigte uns und wir konnten gehen.
Der Sinn des Lebens
Das Erlebnis saß in den Knochen, wir redeten oft darüber. Klara war sich sicher, der Mann trug jetzt einen Pony, um den Vorfall zu verbergen und ich befürchtete noch Wochen danach, es könnte auffliegen und man könnte mich von der Station werfen, als untragbar und gewalttätig. Wer sollte dann mein Kind dort begleiten?
Später entschieden wir uns, dass es sowieso vernünftiger war, dass mein Mann bei stationären Aufenthalten mit ihr dortblieb. Er kommt besser klar, untergebracht mit anderen Familien und deren Gepflogenheiten, was mir deutlich schwerer fällt. Dafür kümmere ich mich besser zuhause um die Papierangelegenheiten und die Kleine mit ihrem Kindergarten, Verabredungen und dem Haushalt. Wir Vier sind ein eingespieltes Team geworden und haben unseren Lauf jetzt gefunden. Wenn ich Klara zu sehr vermisse, tauschen wir für ein paar Tage und er und Marta freuen sich auch über ihre gemeinsame Zeit. Aber auch versicherungstechnisch ist es vernünftiger, dass er im Krankenhaus mitstationiert wird. Nicht bloß einmal dankte ich Gott für das gelobte Land, in dem wir uns hier befinden, welches uns mit seinem Sozialsystem aufgefangen hat. Es hätte auch schlimmer kommen können, gleiche Krankheit unter unsozialeren Umständen. Trotzdem gibt es viele Eltern im Krankenhaus, die sich über die finanziellen Umstellungen beschweren. Eigentlich sind das meistens Eltern, die hohe Standards gewohnt sind. Leider beklagen sie ihr finanzielles Leid häufig auch in Anwesenheit ihrer kranken Kinder. In der Wertetabelle sind Kinder hier leider oft an trauriger Stelle.
Aber da war auch noch ein Grund, aus dem ich ständig an den Friseurbesuch dachte. Machte es vielleicht doch Sinn, was der Mann dort gesagt hatte? Im ersten Moment kam es mir so vor, als hätte ich ihm die Narbe verpasst, damit er mich nie wieder vergesse und ihm immer gegenwärtig wäre, was er vor liebenden und leidenden Eltern nie mehr sagen sollte. Aber später, je öfter ich darüber nachdachte, erschien es mir eher, als hätte ich ihm diese Schramme verpasst, damit ich ihn nie mehr vergesse.
Vielleicht war es wirklich nicht vernünftig, Kinder in die Welt zu setzen, inmitten lauter Kriege, Verbrechen, Gewalt, Krankheiten. Ich denke oft darüber nach.
Ich fragte Gott gleich nach dem Vorfall, weshalb er mir diesen Menschen auf den Weg gestellt hatte. Gerade in der Periode, als ich sanftmütiger wurde, friedfertiger und milder, setzte er mir diese teuflische Gestalt in den Weg. Ich fragte mich, ob es eine weitere Prüfung war, die ich vermutlich nicht bestanden hatte. Auch wenn es sich irgendwie gut angefühlt hatte, ihm eine verpasst zu haben, war es bestimmt nicht das, was Gott von mir wollte. Aber mich beschäftigte der Inhalt seiner Aussagen auch. Ich habe mir immer drei oder mehr Kinder gewünscht und vor Klaras Krankheit waren wir dazu auch entschlossen. Aber jetzt, da ich nicht weiß, welche Rolle dieses Erlebnis spielt, bin ich mir nicht sicher. Ist es wirklich sinnvoll, an diesem irdischen Leben hier so sehr festzuhalten, bei all dem hier vorherrschenden Leid? Ich warte noch auf die Eingebung hierzu. Vielleicht werde ich alles erst wieder „hinterher“ verstehen. Wir jedenfalls haben uns für das Leben entschieden, hier und jetzt.
Alles hat seinen Sinn
Viele Antworten kamen von alleine als Gefühl in mir hoch oder als Gedanke; Erkenntnis wäre das richtige Wort. Es war wie etwas, was schon immer dagewesen ist, glasklar, nur meine Augen waren verschwommen. Aber einige Antworten empfing ich ganz deutlich über Menschen. Danke, durch euch spürte ich das ein oder andere Mal Gott mit mir sprechen! Es waren Erkenntnisse, die nie mehr verschwinden.
Situationen, Enttäuschungen, Begebenheiten, Verletzungen und Einsamkeiten aus der Vergangenheit wurden und sind mir jetzt so klar. So oft fragte ich mich, warum die Dinge so schmerzen mussten. Jetzt wusste ich es und weiß ich es. Es waren keine Strafen, wie ich vorher dachte. Es waren Vorbereitungen und Training auf das, was kommen sollte. Ich habe alle Ängste, Enttäuschungen und Verletzungen zur rechten Zeit erlebt. Ich war in bester Form, als es darauf ankam, mein schwerstes Kreuz zu tragen. Natürlich hatte er es auch an meine Fähigkeiten angepasst. Wäre mir mein Kind plötzlich aus dem Leben gerissen worden, wäre ich vermutlich unter dem Gewicht eines solchen Kreuzes zusammengekracht. Es war eben für mich gemacht. Ich bin jetzt einer von den Menschen geworden, die sagen, alles hat seinen Sinn, weil ich erkennen konnte, alles hatte seinen Sinn.
Kein Weg allein
Klaras Metastasen verschwanden innerhalb von fünf Monaten komplett. Es grenzte an ein Wunder. Wir sind sehr dankbar für die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse, aber wir sind uns einig, wer das letzte Wort hat.
Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Ein paar Chemos warten noch auf Klara und die Bestrahlungen fangen gerade erst an. Die Biopsien, die Rippenoperation und die Therapien haben und werden noch ihre Spuren hinterlassen, auf ihrem Körper und unseren Seelen.
Ich schreibe hier aus meiner Perspektive und vielleicht erscheint es, als würde ich vergessen, wer eigentlich der Kranke war und wer in dem ganzen Geschehen eigentlich der Leidtragendste war. Das vergesse ich niemals. Eines Tages wird Klara hoffentlich auch die Muße, die Zeit und das Verlangen empfinden, ihre Sicht und Erlebnisse mitzuteilen. Letztendlich war es ein Heilungsprozess für uns alle. Mir tut es leid, dass es über ihren kleinen Körper ausgetragen werden musste, aber ich erlebe es als eine riesige Reinigung, die hier stattgefunden hat und ich empfinde sie als auserwählt dafür. Ich habe gleich zu meinem Mann gesagt, ich habe Angst, dass Klara, wenn sie überlebt, noch viele solcher Aufgaben bekommen wird, sie wird noch vieles ertragen müssen, vielen noch die Augen öffnen müssen und viele auf den rechten Weg zurückbringen müssen. Es scheint ihr Kreuz zu sein, aber der liebe Gott hat sie auch mit einer unfassbaren Kraft und Ausdauer ausgestattet, sowas habe ich noch nicht erlebt.
Es ist nicht so, als würde ich mich jetzt, da ich mich stärker fühle, nicht schon auch manchmal an dem Gedanken erschrecken, was wohl hiernach kommen mag und wofür ich wachsen sollte. Welches Kreuz ist das nächste? Aber was auch kommen mag, ich fühle mich nicht mehr verlassen, ich fühle mich begleitet und beschützt und weiß, wir schaffen jetzt alles. Es heißt nicht, dass ich jetzt absolut erleuchtet bin und mir nicht immer noch auch kleinste Herausforderungen manchmal Kopfzerbrechen und Magenschmerzen verursachen. Aber dann weiß ich, worauf ich zurückgreifen kann und erinnere mich, aus welcher seelischen Wüste er mich gerettet hat.
Es ist auch nicht so, als hätte ich nicht selbst noch viel zu lernen und zu erkennen und als würde ich nicht täglich wieder in alte Muster und Verhaltensweisen verfallen. Aber die Richtung, in die ich mich immer wieder wende, ist eine ganz andere. Ich werde auch jetzt noch manchmal wütend, trotzig oder ängstlich, aber sobald die erste Welle vorbei ist, vergebe ich und werde mild, dort, wo ich mich früher reingesteigert hätte und noch mehr Schaden angerichtet hätte. Der Weg ist das Ziel, und ich fühle, ich bin jetzt auf dem richtigen.
Die Verfasserin ist der Redaktion namentlich bekannt (Erstveröffentlichung durch Dana Jungbluth)
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